Wir alle haben einen oder sogar mehrere Schlüssel. Wenn man einen Schlüssel hat, hat man ein Zuhause, eine eigene Ecke, ein Schließfach oder ein Tagebuch, in denen man die wichtigsten Dinge aufbewahrt. Wir sollten die Dinge, die wir haben, und das Sicherheitsgefühl schätzen, denn es gibt Leben wie das von Samuel Bak: Als Kind hat er alles verloren, was er je gekannt und genossen hatte – Dinge und Menschen.

Wenn eine Person, die der Familie Gutes getan hatte, die Baks besuchte, pflegte die Mutter des Künstlers, sie kurz vor der Abreise aufzuhalten, indem sie Folgendes sagte: „Warten Sie bitte kurz, ich möchte Ihnen den Staub von Ihren Flügeln abwischen.“ Samuel Bak und seine Mutter überlebten nur dank der Bemühungen der Gerechten, die sie versteckten und dadurch ihr Leben riskierten. Das Wissen, dass es unter uns Menschen gibt, die leibhaftige Engel sind, flößt uns großen Respekt ein, und wir empfinden Dankbarkeit für diejenigen, die ihr Leben nach humanistischen Werten und von Mitgefühl geleitet führen.

Im Ghetto Vilnius gab es nur einen einzigen Baum. Die Ghettohäftlinge, die sich nach Grün und Natur sehnten, richteten ihre Augen immer wieder auf den Baum. In den Erinnerungen des Künstlers blieb dieser Baum als der Baum der Spiele. Der eingezäunte einzige Baum im Ghetto stellte eine ganze Welt dar, einen eigenen Mikrokosmos: Käfer, Ameisen und Marienkäfer krabbelten an seinem Stamm auf und ab, Vögel zwitscherten in seiner Krone, die Sonne spielte in seinen Blättern. All dies regte die Phantasie des kleinen Künstlers an und machte ihm Hoffnung auf eine andere Welt.

Schach ist ein rationales Spiel. Im unseren Leben spielen die Mächtigen der Welt mit den Menschen wie mit Schachfiguren. Die Menschen gehen ständig Risiken ein, indem sie Lebensentscheidungen treffen – sie machen Schachzüge. Samuel Baks Schachzyklus offenbart einen weiteren Aspekt, nämlich, wie schnell sich die Dinge ändern können: Die Welt, die der Künstler als Kind kannte, in der das Leben auf ationale Gesetzen beruhte, wurde durch den Holocaust ausgelöscht.

Samuel Bak betont, dass es in jener Zeit für einen jüdischen Jungen, der 1933 in Vilnius geboren wurde – im selben Jahr also, an dem Hitler in Deutschland an die Macht kam – unmöglich war zu überleben. Es bedurfte zehn von zehn Wundern, damit er und seine Mutter überlebten, im Gegensatz zu allen vier seiner Großeltern und seinem Vater. Ein solches Glück liegt nicht in der Hand eines Einzelnen, sondern erfordert viele schicksalhafte Zufälle und die Hilfe vieler Fremder, die ihr Leben riskieren. Für Samuel Bak waren es der Priester Juozas Stakauskas, der Lehrer Vladas Žemaitis und die Nonne Marija Mikulska, die seine Retter:innen wurden.

Durch das Malen von Tassen, Tellern, Löffeln und Vasen fordert Samuel Bak uns auf, die einfachen Dinge zu schätzen, die uns jeden Tag umgeben. Alltägliche Gegenstände sind eine Metapher für eine einfache, aber gemütliche Welt. Es ist eine heile, idyllische Welt, in der Tee aus einer feinen Teekanne gegossen und Zucker mit einem Löffelchen untergerührt wird.
Indem er das zerbrochene auf der Straße verstreute Geschirr malt, spricht der Künstler von solch einer verschwundenen Welt. Und wenn er die Gefäße aus Scherben wieder zusammensetzt, stellt er die Frage: „Ist es möglich, JENE Welt neu zu erschaffen?“.

Welche Stadt er auch immer vor Augen hatte, sei es Rom, New York oder Lausanne, die Landschaften auf seinen Leinwänden waren nach den Proportionen von Vilnius gestaltet: „Mein ganzes Leben lang habe ich auf die eine oder andere Weise Vilnius gezeichnet. Ich habe Vilnius als Kind gesehen und lasse mich in meinem Werk immer noch von diesen Eindrücken – von den Proportionen zwischen den Fenstern und den Mauern, zwischen den Häusern und den Straßen – leiten", sagt Samuel Bak. In den 1970er Jahren, als er in New York lebte und den Dschungel aus Wolkenkratzern in der Millionenstadt vor Augen hatte, schuf Samuel Bak seinen Gemäldezyklus mit dem Titel „Rückkehr nach Vilnius“, der dem Ghetto Vilnius gewidmet ist.
Wie entscheidend eine Heimatstadt (Heimatort) für unser aller Leben sein kann! Und es spielt keine Rolle, welche Erinnerungen wir an sie haben.

Wann werden wir aus dem Paradies vertrieben: wenn wir geboren werden, wenn wir erwachsen werden, oder wenn die erste Liebe unglücklich endet, und uns die Augen öffnet? Wir alle haben Erfahrungen gemacht, vor denen wir unsere eigene Birne des Paradieses schützen möchten, um ihren süßen, unverfälschten Geschmack zu bewahren – die Erinnerung an unser eigenes Paradies und die Möglichkeit, eines Tages dorthin zurückzukehren. Samuel Baks Adam und Eva scheinen sich nicht mehr an den Geschmack des Paradieses zu erinnern, aber sie wissen, dass es in dieser unvollkommenen Welt schöne Dinge gibt, die man ehren und schätzen sollte.